Vier Hände, 88 Tasten: intime Klavier-Psychogramme aus dem Olymp
Mit „Apollo & Dionysus“ präsentieren die deutsch-griechischen Schwestern Danae und Kiveli Dörken nach erfolgreichen Solo- und Ensembleeinspielungen nun ihr erstes gemeinsames Klavierduo-Album: ein Studiodebüt von konzeptioneller Raffinesse und atemberaubender Virtuosität.
Zwei Schwestern, ein Instrument. Jede für sich eine außergewöhnliche Pianistin von je eigenem Temperament, zusammen eine untrennbare Einheit mit identischer Musik-DNA. Kiveli und Danae Dörken, ein „Orchester aus vier Händen“ (Thüringische Landeszeitung), setzen seit Jahren als Klavierduo Maßstäbe: und das sowohl mit ihrer pianistischen Leistung (Kölner Stadt-Anzeiger: „ein Wunder an Leichtigkeit, Charme und Gefühl“) als auch durch ihre außergewöhnlichen Programme. Dass die beiden in jeglicher Hinsicht ein geborenes Duo sind, zeigen die griechisch-deutschen Schwestern regelmäßig auch in ihrem launig-informativen Podcast „The Sister Trill“, gemeinsamen Education-Projekten („Rhapsody in School“ und „Klassik hautnah“ oder „MoToKey“/Tonali) sowie bei dem 2015 von ihnen ins Leben gerufenen „Molyvos International Music Festival“ auf der Insel Lesbos.
Überhaupt ist Griechenland mit seiner Kultur die innere Heimat der in Wuppertal und Düsseldorf geborenen Schwestern, die mit elf bzw. sieben Jahren als jüngste Studentinnen in der Geschichte der Hochschule Hannover ein Klavierstudium bei Karl-Heinz Kämmerling begannen und dieses später bei Lars Vogt fortsetzten. In den Sommern ihrer Kindheit erzählte ihnen ihre Großmutter auf Lesbos Geschichten aus der olympischen Götterwelt. „Und wie viele griechische Kinder besuchten wir irgendwann auch das Orakel von Delphi“, erinnert sich mit Kiveli die jüngere der beiden, „wo wir begriffen, dass zu einer guten Entscheidung immer beide göttliche Eigenschaften gehören: Ratio und Emotion.“
Diese beiden Pole der menschlichen Existenz – und speziell auch des Künstlertums – sind in der griechischen Mythologie durch zwei Götter personifiziert, nämlich die Zeus-Söhne Apollon und Dionysos. Ersterer steht für das Maß, die Ordnung und Klarheit, Letzterer für das Irrationale, Chaotische, Ungeformte. Und die beiden Dörken-Schwestern erkennen sich gegenseitig in dieser Bipolarität wieder: Das Chaotisch, Wilde, also Dionysische sei eher Kivelis Natur, sagt die Ältere, das Geordnete, Klare, also Apollinische gehöre mehr zu Danae, ergänzt die Jüngere. Und so trägt ihr neues Album den fast selbstreferenziellen Titel „Apollo & Dionysus“, auf dem sie mit überraschenden und originellen Repertoire-Verbindungen einen sehr intimen Blick auf das schwesterlich-künstlerische Selbstverständnis freigeben.
Das Herzstück des neuen Albums bildet Maurice Ravels Suite Nr. 2 aus „Daphnis et Chloé“: „Das Stück berührt uns in besonderer Weise, weil sich in ihm dionysische und apollinische Energien die Waage halten“, erläutert Danae. „Apollo und Dionysos kommen darin als Rat gebende Götter vor. Die Erzählung illustriert sehr gut, was wir auch mit der gesamten CD ausdrücken wollen: dass die Synthese beider Weltanschauungen wichtig ist, der rational-apollinischen und der emotional-dionysischen, um die eigene Persönlichkeit zu finden und zu entwickeln.“ Eindeutig der apollinischen Fraktion zuzuordnen sind die beiden Mendelssohn‘schen „Lieder ohne Worte“ op. 38,6 und 67,2 in vierhändigen Arrangements von Carl Czerny, galt doch in der jüdisch-chassidischen Tradition seit Mitte des 18. Jahrhunderts der Gesang ohne Worte als höhere Kunst und Ausdruck spiritueller Reinheit. Bei den „Ungarischen Tänzen“ von Johannes Brahms (hier sind Nr. 4 und 5 eingespielt), die zum Urrepertoire der Schwestern zählen, ist dagegen eine Vermittlung zwischen beiden Sphären durch die Überführung von (vermeintlicher) Volksmusik in klassische Formensprache erkennbar: „Für uns stellen diese beiden Tänze in ihrer gezähmten Exotik eine Art Synthese aus Dionysischem und Apollinischem dar.“ Geradezu ekstatisch zeigt sich das Duo dann bei Manuel de Fallas „Dos Danzas“, und eine vergleichbare Energie bis hin zum Nahezu-Kontrollverlust offenbart auch der populäre „Zorba‘s Dance“ von Mikis Theodorakis in einem Dörken-eigenen Arrangement: „Es ist vielleicht eines der bekanntesten griechischen Party-Lieder und gehört damit klar in Dionysos‘ Reich. Für uns stehen diese Melodie und ihr Sirtaki-Rhythmus für absolute Lebensfreude, für die Feier des Moments.“ Auch bei Albert Roussels „Danse de Bacchus“, einem Ausschnitt aus der „Bacchus et Ariane“-Suite Nr. 1 in der Bearbeitung von Wolfgang Renz, wird sich dem Rausch ergeben: „Der Aufbau des Stücks zeigt die Wirkung des Alkohols vom leichten Schwips bis zum unkontrollierten Torkeln“, so Danae. „Irgendwann wird es ganz ruhig, vielleicht ist das die komatöse Konsequenz des Weines. Doch dann blitzt ein kleines Grinsen mit dem Motiv in der rechten Hand des ersten Klaviers auf, verschmitzt oder besser teuflisch, das signalisiert: Morgen wird der rauschhafte Tanz wieder von vorn losgehen.“ Dagegen spiegeln die zwei ausgewählten Stücke aus den „12 Morceaux“ op. 48 von Reinhold Glière wieder die gegenläufigen Prinzipien des Album-Themas: „Die Arabesque ist ein kurzer, leidenschaftlicher Tanz, der einen direkt mitreißt“, erläutert Danae. „Man spürt sofort, dass man sich der unaufhaltbaren Kraft darin nicht entziehen kann. Hingegen ist die Fughetta ein sehr strukturiertes Stück, alles hat seinen Platz, es gibt einen Plan. Apollo steht ja auch für die Logik und so entsteht hier in Stimm- und Themenführung ein perfekt konstruiertes Musikgebilde.“ Das gilt auch für die modernste Komposition der CD: Der dritte Satz aus „Four Movements for Two Pianos“ von Philip Glass basiert auf mathematischer Ordnung und macht deren Verschieben und eine sich daraus ergebende Neuordnung hörerlebbar. Den Abschluss des Albums markiert Claude Debussys „Reverie“: für die Pianistinnen „eine Kostbarkeit voller Nostalgie, deren Melodie eine musikalische Utopie zeichnet und damit den Weg in Apollos Welt weist.“
Auf „Apollo & Dionysus“ präsentieren Kiveli und Danae Dörken ein ebenso innovativ wie klug zusammengestelltes Programm, das als klingende Visitenkarte für dieses hochenergetisch-lebensbejahende, stilistisch facettenreiche und pianistisch atemberaubende Schwesternpaar daherkommt. Das Klavierduo sei für sie die intimste Form der Kammermusik: „eine entblößende Kunst, so dicht an dicht am selben Instrument“ – und dazu brauche es tiefstes Vertrauen. Genau das vermittelt sich auf dieser CD in einer sonst nur selten zu hörenden Selbstverständlichkeit im Laufe dieser fesselnden Klangreise von vier Händen auf 88 Tasten.