Am 27. Januar 2020 jährt sich der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 75. Mal. Der Komponist Viktor Ullmann (1898-1944) steht stellvertretend für eine Vielzahl von Musikschaffenden, überwiegend jüdischer Herkunft, die in den Vernichtungslagern des nationalsozialistischen Regimes ihr Leben lassen mussten.
Die Pianistin Annika Treutler widmet sich anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung der Verfemten Musik. Musiker und Komponisten wie Viktor Ullmann, Bohuslav Martinů, Pavel Haas und viele andere: Sie alle bekamen niemals die Möglichkeit, ihre Kreativität voll zu entfalten, weil ihnen ihr künstlerisches Schaffen in Freiheit verwehrt blieb. „Durch den Holocaust wurde eine Generation förmlich ausgelöscht und ein Teil der Musikgeschichte ausradiert. Dadurch ist nicht nur Ullmanns Musik, sondern die einer ganzen Komponistengeneration auch heute, 75 Jahre später, vollkommen unbekannt“, so Annika Treutler. Gemeinsam mit Stephan Frucht (Dirigent und Künstlerischer Leiter des Siemens Arts Program) und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin erzählt Treutler Viktor Ullmanns Geschichte musikalisch auf neue Art und Weise. Sie möchte so die Erinnerung an den Komponisten wachhalten: „Mein Anliegen ist es, dass seine Musik gleichwertig geschätzt und bekannt wird, wie die seiner großen, nicht verfolgten Kollegen aus der Zeit. Sie hat es verdient! Ullmann hat in seiner Musik eine ganz besondere Sprache entwickelt, eine eigene Tonalität erschaffen. Obwohl er Schüler von Arnold Schönberg gewesen ist, ist seine Musik nicht atonal, sondern die Tonalität abgewandelt, indem er Intervalle vergrößert oder verkleinert. Dadurch entsteht die für ihn typische enorme Spannung, und trotzdem fühlt sich der Hörer nicht verloren. Wir meinen immer wieder Anklänge anderer Komponisten zu hören, und trotzdem spricht Ullmanns Musik eine ganz eigene, ungewohnte Sprache.“
Das Klavierkonzert (1939) und die Klaviersonate Nr. 3 (1940) verbindet nicht nur die zeitliche Nähe der Komposition; beide Werke sind auch durch die Widmungsträgerin, die junge ungarische Pianistin Juliette Arányi (*1906, verschollen 1944), ideell wie musikalisch eng verknüpft. Viktor Ullmann schrieb das Klavierkonzert in der Zeit der Okkupation Prags durch deutsche Truppen, während die Komposition der dritten Klaviersonate von den erfolglosen Bemühungen des Komponisten überschattet wurde, ins Exil zu gehen. Keines der beiden Werke erlebte die Uraufführung durch Juliette Arányi, die wie Ullmann 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde und vermutlich 1944 in den Gaskammern von Auschwitz den Tod fand. „Das Wissen, dass sie ähnliche musikalische Bestrebungen, hoffnungsvolle Lebensziele gehabt haben muss wie ich, und nicht in der Lage war, diesen nachzugehen, ist erschütternd“, sagt Annika Treutler, „jederzeit weckt es in mir das große Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen, damit sie sich niemals wiederholt und wirklich jeder Mensch frei und in Würde leben darf.“
Viktor Ullmanns Klaviersonaten stellen einen wichtigen Eckpunkt seines kompositorischen Schaffens dar, nicht zuletzt, weil diese vollständig erhalten sind. Zahlreiche andere Werke des Komponisten gelten als verschollen. Aus dem Jahr 1944, in dem Ullmann bereits seit zwei Jahren in Theresienstadt interniert war, stammt die Klaviersonate op. 7, die Annika Treutler am meisten berührt: „Wer ein düsteres, aggressives Werk erwartet, wird überrascht. Viktor Ullmann wollte den positiven Geist wahren und war überzeugt, dass durch starke positive Denkweise alles, auch das schlimmste Regime, besiegt werden kann – das war sein Credo bis zum Schluss. Die seinen Kindern gewidmete 7. Sonate endet mit der Fuge über ein hebräisches Volkslied in (vermeintlich!) strahlendem D-Dur mit B-A-C-H Zitaten, ein Besinnen auf den Komponisten, der Gott am nächsten ist. Wir wissen heute, wie es ausgegangen ist… Das wird, wie mich jedes Mal aufs Neue, jeden erschaudern lassen, beim Hören oder auch beim Spielen. Seine Musik ist in Kombination mit seinem unbegreiflich grausamen, persönlichen Schicksal eine ungeahnte Welt aus musikalischer, und sogar psychologischer Sicht.“ Die Klaviersonate Nr. 7 war das letzte Werk, das der Komponist vollenden konnte.