Für das Piazzolla-Album „Variations on Buenos Aires“, das am 28. Januar 2022 bei Berlin Classics erscheinen wird, hat die niederländische Geigerin Isabelle van Keulen zwei unterschiedliche Ensembles zusammengebracht – ihr auf Tango nuevo spezialisiertes, eigenes Ensemble und die von ihr künstlerisch geleitete Deutsche Kammerakademie Neuss. Eine Herzensangelegenheit, die die Musik Astor Piazzollas ob ihrer ungewöhnlichen Verbindung von Tango-Ensemble und Streichorchester in neuer Spielart erklingen lässt.
Im Jahr 2011 gründete Isabelle van Keulen mit dem Bandoneonisten Christian Gerber, dem Kontrabassisten Rüdiger Ludwig und der Pianistin Ulrike Payer das „Isabelle van Keulen Ensemble“. Gemeinsam veröffentlichten sie schon einige Piazzolla-Alben und verschreiben sich seiner Musik. Auf „Variations on Buenos Aires“ hat Christian Gerber eigens die nötigen Bearbeitungen vorgenommen. Bei einigen Stücken hat er lediglich die Instrumentierung behutsam an die klanglichen und dynamischen Differenzierungsmöglichkeiten der großen Besetzung angepasst, bei anderen hat er, der mit dem Oeuvre Piazzollas aus jahrzehntelanger Beschäftigung vertraut ist, Gegenstimmen hinzu komponiert. Dem als Filmmusik berühmt gewordenen „Oblivion“ etwa hat er eine Bandoneon-Einleitung vorangestellt. Gemeinsam mit der DKN verleihen die Musiker:innen der Musik einen neuen Anstrich und bieten ein neues, spannendes Piazzolla-Erlebnis.
„Das Orchester und Ensemble sollen gleichermaßen gefordert werden – keines der beiden hat ausschließlich eine begleitende Funktion“, so Gerber zu seinen Arrangements. „Meine Absicht war es, einen Dialog herzustellen.“ Aber nicht nur der Dialog der Musiker:innen untereinander ist bedeutend. „Wir wollen für das Publikum ein umfassendes Ergebnis kreieren“, so Isabelle van Keulen, „wir ziehen die Emotionen der Zuhörenden zu uns, und geben gleichermaßen unsere ab. Genau diese Brücke, die Kommunikation ist das Spannende.“
Als der Tango zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Europa gebracht wurde, stieg auch seine Popularität immens an. In Buenos Aires spielten allabendlich Hunderte sogenannter orquestas típicas. Sie setzten sich aus Bandoneons, Streichern und Klavier zusammen und hatten bis zu 100 Mitspieler:innen. Das Isabelle van Keulen Ensemble ist also ein orquesta típica in Essenz.
Die Rauheit der Anfänge prägt bis heute den Klang des Tango. Die dazugehörigen Spieltechniken müssen sich klassisch ausgebildete Musiker:innen erst aneignen. „Tangazo“, mit dem dieses Album die Bandbreite von Piazzollas Klangwelten auslotet, beginnt mit einer düsteren, westlich-modern klingenden Einleitung. Wenn diese in einen raschen Teil übergeht, knarrt zum Tanz des Bandoneons eine Ratsche und sausen helle Peitschenhiebe.
Dennoch ist es jederzeit zu hören, dass es sich bei Piazzollas Musik nicht um traditionellen Tango handelt. Das hochvirtuose Wechselspiel in „Tres minutos con la realidad“ mit seinen Betonungsverschiebungen offenbart Anklänge an Strawinsky, und bevor die Sologeige im Dialog mit den Streichern der Kammerakademie – es ist das einzige Stück ohne Beteiligung des Tango-Quartetts – ihre Staccati abfeuert, erlaubt sich der Komponist eine kurze gesangliche Passage von fast ironisch wirkender Süße und Harmonie.
Zeitlebens verehrte Piazzolla die Musik Johann Sebastian Bachs. Dieser Einfluss ist in seiner Musik, speziell auf diesem Album bei den Stücken „Soledad“ und „Fugata“, immer wieder deutlich wahrzunehmen.