Abenteuerlust, Prahlerei und faustdicke Lügen… Für ihr zweites Album bei Berlin Classics hat sich die norwegische Geigerin und Hardangerfiedel-Spielerin Ragnhild Hemsing mit einer der bekanntesten und sagenhaftesten Figuren Norwegens auseinandergesetzt: Peer Gynt. Dabei ist sie nicht Teil der originalen Orchesterbesetzung, sondern ließ ausgewählte Abschnitte der Peer Gynt-Schausspielmusik, op. 23 für ihre Soloinstrumente Hardangerfiedel und Violine samt Streichorchester arrangieren – und stellt so die Verbindung der traditionellen Geschichte Peer Gynts zur norwegischen Volksmusik her.
Schon lange hatte Ragnhild Hemsing den Wunsch, die Musik von Peer Gynt auch auf der Hardangerfiedel umzusetzen: „Ich dachte, dass Teile der Musik perfekt auf der Hardangerfiedel in Kombination mit Solovioline und Streichorchester passen würden. Aber ich wollte tiefer in das Material eintauchen, in vollem Bewusstsein dafür, dass die Volksmusik und die Hardangerfiedel Inspirationsquellen dafür waren.“ Dass die norwegische Volksmusik und die traditionelle Hardangerfiedel Grieg bei seiner Komposition beeinflusst haben, bemerkt man vor allem beim Titel „Morgenstimmung“: Die ersten Töne dieses Werks entsprechen genau den Resonanzsaiten der Hardangerfiedel: A F♯ E D E F♯.
Ursprünglich nicht für die Bühne, sondern als dramatisches Gedicht vom norwegischen Nationaldichter Henrik Ibsen verfasst, schildert Peer Gynt die Geschichte des gleichnamigen Protagonisten, der auf der Suche nach Liebe und Abenteuern seine Heimat verlässt. Nach vielen Jahren wilden Lebens in der ganzen Welt kehrt er als alter und gebrochener Mann nach Norwegen zurück – wo ihn seine Geliebte Solveig mit offenen Armen empfängt und ihm seine Taten verziehen werden. Mit seinem 1867 entstandenen Gedicht setzte sich Ibsen mit dem romantischen Nationalismus in Norwegen auseinander. Eine Bühnenfassung des Stücks entstand einige Jahre später, auf Wunsch des Direktors des Theaters von Christiania (heute Oslo). Der Auftrag wurde an Edvard Grieg vergeben, der sich – nach Sichtung des Materials – allerdings schwer mit der Vertonung tat. In Norwegen war seine 1876 zum ersten Mal aufgeführte Bühnenmusik ein großer Erfolg; Grieg bezweifelte jedoch, dass dies auch außerhalb seines Heimatlandes der Fall sein konnte und veröffentlichte daher 1888 und 1893 zwei kürzere Peer Gynt-Suiten. Diese sollten bald zu seinen erfolgreichsten Werken weltweit werden.
Ragnhild Hemsing hat auf ihrem neuen Album nicht nur die Geschichte Peer Gynts mit der Hardangerfiedel zusammengebracht, sondern integriert auch einen weiteren Aspekt der Volksmusik, die Improvisation: „Das ist für mich, die ich meine Wurzeln in der Volksmusik habe, ganz natürlich. Diese wurde nicht notiert. Ich beziehe mich bei der Improvisation auf die Freiheit, die ich in der Musik fühle, und auf die Tradition, die ich in das klassische Genre einbringen möchte.“ So spiegelt Ragnhild Hemsing in ihrer Musik und ihrer Neuinterpretation von Griegs Werk auch Peer Gynts Leben: In seiner Sehnsucht nach Freiheit und Entdecken von etwas Neuem entdeckt er seine Verbundenheit zu seiner Heimat und deren Traditionen. Letztendlich besinnt er sich seiner Herkunft und kehrt zurück – und ist dabei doch beeinflusst durch die Eindrücke, die er auf seiner Reise durch die Welt sammeln konnte.
Begleitet wird Ragnhild Hemsing auf ihrem zweiten Album von den Trondheim Soloists, ein Ensemble, mit dem sie schon seit Längerem eine hervorragende Zusammenarbeit verbindet. Die Arrangements der Stücke schrieb – wie auch schon für Hemsings erstes Album Røta – Tormod Tvete Vik. „Die Peer Gynt-Suiten erklingen nun in einem neuen Gewand und mit einem neuen Klang. Ein gemeinsamer, spannender und lohnender Erkundungsprozess“, wie die Musikerin betont.