Es gibt eine lange Liste von Komponist:innen, die auch als Interpret:innen ihrer und anderer Musik herausragende Bedeutung erlangten. Die Berichte von Stehgreif-Fugen eines Johann Sebastian Bach, die furiosen Klavierwettstreite von Mozart mit Clementi und Beethoven mit Wölfl, über das Virtuosentum Clara Schumanns und Franz Liszt führen uns im 20. Jahrhundert direkt zu Frederic Rzewski, der ohne Frage zu den wichtigsten Komponisten und Pianisten der USA des 20. Jahrhunderts zählt. Seine Kompositionen, deren kraftvolle Namen nur einen Vorgeschmack auf ihren enorm vielfältigen musikalischen Gehalt bieten, zählen zu den modernen Klassikern. Der umtriebige und flexible Pianist Benyamin Nuss hat nun drei zentrale Stücke in einer Koproduktion mit dem WDR eingespielt: Anlässlich des ersten Todestages von Frederic Rzewski erscheint am 26. August 2022 die Aufnahme der „North American Ballades“, von „Mayn Yingele“ und dem Werk „The People United Will Never Be Defeated”.
Während der revolutionären Stimmung der 68er Jahre begann Rzewski den Geist der Zeit in Kompositionen zu verarbeiten. Häufig nutzte er dafür Motive bekannter Arbeits-, Protest und Gospellieder und goss sie (teilweise sogar mit Freiräumen für Improvisationen) in seine ureigene Tonsprache. Mit den vier Sätzen der „North American Ballads“ eröffnet Nuss das Album und entführt direkt ins Klanguniversum Rzewskis, das durch chromatische Kaskaden, schwere Basslinien und der Schönheit des Unvorhersehbaren geformt und durch Nuss‘ Spiel zu neuem Leben erweckt wird. Die „North American Ballads“ erzählen von den Arbeitern der Nation, den Geknechteten und Unterdrückten und verdeutlichen Rzewskis Blick auf die USA seiner Zeit.
Das zweite Werk des Doppelalbums, „Mayn Yingele“ (Jiddisch für „Mein kleiner Sohn“) entstand anlässlich des 50. Jahrestags der Reichspogromnacht. Es drückt den Herzschmerz eines Schichtarbeiters aus, der von der erbarmungslosen Arbeitsroutine zermalmt wird, die ihm jede Aussicht auf väterliche Freude verwehrt. Phasen nervösen Kontrapunkts kontrastieren mit dunkler Melancholie, erstickter Wut, unerfüllter Sehnsucht und frustrierender Hetze.
Rzewksis wohl bekanntestes Werk, „The People United Will Never Be Defeated” („Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden“), bildet mit seinen 36 Variationen über ein chilenisches Widerstandslied den Abschluss des Albums. Anklänge an das alte Brecht/Eisler-Solidaritätslied gehen in die Partitur ein, verschiedene Stilrichtungen werden eingewebt.
All diesen Stücken liegt ein Bewusstsein der Ermangelung zugrunde. Hier haben wir die Verlierer der Gesellschaft, die von Elend geplagt sind und sich nach Gerechtigkeit und Gleichheit sehnen. Allen gemeinsam ist eine tragische Erkenntnis des Unerreichbaren, sogar „The People United“, denn trotz seines mitreißenden Finales bleibt es die Hymne einer verlorenen Sache. Rzewksi komponierte dieses Werk auf Anfrage der befreundeten Pianistin Ursula Oppens, die 1976 zur 200. Jubiläum der Gründung der Vereinigten Staaten das Werk erstmals im Kennedy Center in Washington, D.C. präsentierte – ein unmissverständliches Statement Rzewskis gegen das große Einwirken amerikanischer Politik und Geheimdienste bei dem Putsch des chilenischen Diktators Pinochet. Für Rzewski gingen politischer Ausdruck und Klaviermusik stets gemeinsame Wege. Dieses Engagement manifestiert sich in seinem gesamten musikalischen Werdegang bis zu seinem Tod.
Dass Benyamin Nuss, dessen Diskografie sich von Games-Music bis zum Mundharmonika-Klavier-Duo erstreckt, sich nun gerade diesem Komponisten zuwendet, liegt an seiner Aktualität der Thematik und den stetigen Ungewissheiten und Zerwürfnissen unserer Zeit. Gleichzeitig in unmittelbarer Interaktion mit den Geschehnissen seiner Ära und dabei wegweisend in seiner Klangsprache und Kompositionsweise bietet Frederic Rzewskis Musik viel Fläche für spannungsvolle Reibung. Von betrüblicher Kargheit bis zu heroischer Virtuosität gibt seine Musik Benyamin Nuss die Möglichkeit, sein pianistisches Können und interpretatorische Treffsicherheit unter Beweis zu stellen.