Schumann im Hier und Jetzt!
Mit einer umfassenden Diskografie und zahlreichen internationalen Auszeichnungen, darunter eine Grammy-Nominierung, ist der Pianist und Komponist Kristjan Randalu schon lange kein Unbekannter mehr. Er wurde in Estland geboren, und wuchs in einer sehr musikalischen Familie auf. Diese zog schon zu seinen Kindertagen nach Karlsruhe. Seine Aufnahmen erschienen bei renommierten Jazzlabels wie ECM oder Enja. Zweimal erhielt er den Estonian Music Award und landete auf der „Best of 2020″-Liste der Zeitschrift „The New York City Jazz Record“
Die vorliegende Aufnahme Dichterliebe ist das Debüt-Album des aus Tallinn stammenden Pianisten bei Berlin Classics. Hier widmet er sich dem berühmten und gleichnamigen Liederzyklus op. 48 von Robert Schumann. Der Zyklus besteht aus 16 romantischen Kunstliedern, die auf dem Lyrischem Intermezzo von Heinrich Heine, einer Sammlung von 65 Gedichten basieren. Nun würde man erwarten, dass solch eine lyrische Grundlage zwingend eine Singstimme erfordert. Kristjan Randalu entschied sich jedoch bewusst dagegen. Er erkannte die Eigenständigkeit der Klaviernoten von Schumann und interpretiert die Dichterliebe erstmals ausschließlich instrumental – erweitert durch eigene freie Improvisationen. „Das abstrakte Element der Musik ohne Worte hat mich schon immer fasziniert, und diese Lieder begleiten mich schon seit vielen Jahren”, erklärt Randalu. „Mein Ziel war es den Zyklus mit jener Sprache neu zu interpretieren, bei der ich heute angelangt bin. Diese Versionen wurden meist durch bestimmte melodische, harmonische und rhythmische Elemente initiiert, die den Ausgangspunkt für völlig neue Experimente bilden.”
Sowohl Robert Schumann als auch Heinrich Heine galten als Visionäre. Sie transformierten Gattungen und erfanden die Regeln ihrer Kunst neu. Kristjan Randalu tut es ihnen gleich, indem er die Dichterliebe aktualisiert. Er beweist sich hier als Vordenker der modernen improvisierten Musik und entwickelt feststehende musikalische Strukturen weiter. „Die Ästhetik des klassischen Gesangs hat eine lange Tradition, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat. Für mich steht sie im Kontrast zu den Ausdrucksmöglichkeiten im Jazz, wo die Dinge unmittelbarer und individueller sind, nicht unbedingt auf eine bestimmte Norm hin poliert werden, sondern stattdessen unsere Umgebung hier und jetzt widerspiegeln.”
Kristjan Randalu ist sowohl in der improvisierten Welt des Jazz als auch in der traditionellen Welt der klassischen Musik zu Hause. Seine frühe klassische Musikausbildung bietet seinen Variationen einen konsequenten zeitgenössischen Blick auf Schumanns romantisches Fundament. Er gestaltet die Musik impressionistisch, baut sie mit der harmonischen Fülle des Jazz aus und nimmt sich die Freiheit spontan zu improvisieren. Die Anzahl der thematischen Fäden und das tiefe Spektrum an melodischen Nuancen, die Kristjan Randalu aus diesem Eckpfeiler der romantischen Klaviermusik herauszuholen vermag, ist bemerkenswert und macht dieses Projekt zu einem einzigartigen Unterfangen, das mit einem Fuß in der sich wandelnden Gegenwart und mit dem anderen fest in der immerwährenden Tradition verankert ist.